Strategiepapier des Bundesringes

Abendgymnasien, Abendrealschulen, Abendhauptschulen und Kollegs – als System der schulischen Weiterbildung auch Zweiter Bildungsweg genannt – erfüllen eine wichtige und gesellschaftlich unverzichtbare Funktion für den Erwerb schulischer Abschlüsse durch berufstätige bzw. berufserfahrene Erwachsene. Die Schulen des Zweiten Bildungswegs übernehmen gerade angesichts der gegenwärtigen Umbrüche eine relevante pädagogische wie eben auch gesellschaftliche Aufgabe, Bildungspotenziale zu erschließen und zu aktivieren.
Gesellschaftlich und ökonomisch, schul- und bildungspolitisch vollziehen sich aktuell gravierende Entwicklungsprozesse und Strukturveränderungen. Die gegenwärtigen Entwicklungen werden dominiert von Phänomenen der ‚Informationsgesellschaft‘ und der ‚digitalen Revolution‘, in der die Arbeitsprozesse neu definiert werden und folglich Aus- und Weiterbildungsprozesse an Bedeutung gewinnen. Neben der Ausrichtung auf wirtschaftliche Interessen bleiben Ausbildung und Weiterbildung in dem hier gemeinten Kontext immer auch bezogen auf persönliche Interessen der Menschen an individueller Entfaltung und Entwicklung vorhandener Potenziale und Begabungen.

In eben diesen Zusammenhang einzuordnen ist ein zentrales bildungspolitisches Ziel der EU: Die Popularisierung lebensbegleitenden Lernens (LL)  als Instrument für wirtschaftliche Veränderung und Weiterentwicklung wie für die fortschreitende Bildung der Menschen, um sie zu qualifizieren für die Bewältigung der dynamischen Veränderungsprozesse und sie in diesem gesellschaftlich-ökonomisch-politischen Prozess ‚mitzunehmen‘.
Weiterbildung ist nach diesem Verständnis zentraler Schlüssel für den Erhalt wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit angesichts eines gegenwärtig bereits beklagten Fachkräftemangels und gleichzeitig eine Voraussetzung künftiger Teilhabe an einer offenen, demokratisch verfassten Gesellschaft.

In den einzelnen Bundesländern reagieren aktuelle Maßnahmen in unterschiedlichem Umfang  auf diese, über den nationalen Rahmen ausgreifende Entwicklungen wie z.B. die Entwicklung und Anpassung nationaler Bildungsstandards an internationale Referenzrahmen, die Erweiterung der Hochschulzugangsberechtigung, die Regionalisierung von Weiterbildung und damit verbunden der Aufbau einer Vernetzung und Integration von schulischer Weiterbildung mit weitergehenden Beratungssystemen und beruflichen Orientierungsangeboten.

Abendgymnasien  – als besondere Einrichtungen des Schulwesens Schulen sui generis für  berufstätige Erwachsene –  eröffnen ihren  Absolventen im Sinne einer zweiten Chance Möglichkeiten und Perspektiven, sich beruflich neu zu orientieren und persönliche Lebensentwürfe anders zu gestalten – dies über den Erwerb zusätzlicher fachlicher Qualifikationen und überfachlicher Kompetenzen im Sinn einer erweiterten Allgemeinbildung als Voraussetzung für den Erwerb der allgemeinen  Hochschulreife  oder der  Fachhochschulreife.

Für die Praxis und die alltägliche Arbeit der Abendgymnasien  ist festzustellen, dass neben  den ,klassischen‘ Studierenden mit abgeschlossener Berufsausbildung, mehrjähriger Berufserfahrung  und gesicherten Grundlagen der Allgemeinbildung  in zunehmender Zahl Menschen mit diskontinuerlichen Bildungs- und Erwerbsbiografien (Schulabbrecher; Menschen mit Zeiten von Arbeitslosigkeit und /oder prekärer Beschäftigung), Zuwanderer der zweiten und dritten Generation und -aktuell- zunehmend FIüchtlinge und Asylsuchende die Schulen als biografische Chance begreifen, über einen höheren Schulabschluss die Möglichkeiten der beruflichen und gesellschaftlichen  Integration entscheidend  zu  verbessern.

In Folge der gesellschaftlichen Veränderungsprozesse, der Zunahme unsicherer Beschäftigungsverhältnisse, grundsätzlich der lndividualisierung der Lebensverhältnisse und der sozialen Differenzierung der Sozialisationsbedingungen hat sich der Grad der Heterogenität innerhalb der Studierendenschaft des Abendgymnasiums  in vielfältiger  Beziehung gesteigert – so in Bezug auf die schulische Vorbildung, in Bezug auf die  Qualität der mitgebrachten formalen Schulabschlüsse und hinsichtlich des Grades der Beherrschung der deutschen Sprache.

Der pädagogische und gesellschaftliche Auftrag der Abendgymnasien sichert über die Ausbildungs- und Prüfungsordnungen, dass die Qualität der Abschlüsse hochwertig und ihre Vergleichbarkeit mit den Abschlüssen des Ersten Bildungsweges gesichert ist. Dies wird bislang garantiert durch die spezifische inhaltliche und organisatorische Ausgestaltung der Bildungsgänge an den Abendgymnasien, vor allem jedoch durch einen erwachsenenspezifischen Unterricht, der sich an den Erfahrungen von berufstätigen Erwachsenen orientiert. Vor dem Hintergrund bisweilen schwieriger Bildungs- und Erwerbsbiografien ihrer Studierenden arbeiten die Abendgymnasien erfolgreich nach den Prinzipien einer Pädagogik der Ermutigung und der individuellen Förderung. Die spezifisch erwachsenengemäße Didaktik stellt dabei das Prinzip des exemplarischen Lernens in den Vordergrund; die erreichten Abschlüsse sind  dabei den Abschlüssen der Gymnasien gleichwertig, aber nicht gleichartig.

Die angesprochenen Veränderungsprozesse in der Gesellschaft, der Arbeitswelt, auch der Bildungslandschaft  und insbesondere ihre Dynamik bedeuten neue Themen und Anforderungsbereiche für die Abendgymnasien. Der Zweite Bildungsweg hat auf entsprechende Veränderungen  in den vergangenen  Jahren immer wieder flexible und innovative Antworten  entwickelt; an dieser Stelle ist z.B. die Entwicklung fächerübergreifender Unterrichtsangebote zu nennen oder die Entwicklung erfolgreicher Modelle eines Blended Learning in Gestalt des Bildungsgangs Abitur-online.

Auf die zukünftige Entwicklung bezogen, geht es darum, den hohen Qualitätsstandard der Arbeit der Abendgymnasien und der von ihnen vermittelten Abschlüsse zu erhalten und dabei mit  den neu gestellten Aufgaben in Richtung gesellschaftlicher Integration, Chancengleichheit und Potenzialentfaltung  zu vermitteln.

Um die Anforderungen einer zukunftsgerichteten, dabei zukunftsfesten, qualitativ hochwertigen schulischen Weiterbildung im Sinne der interessierten Bürgerinnen und Bürger sicherzustellen, sind adaptive wie orientierende Veränderungen notwendig:

Es sollten echte erwachsenengerechte Angebote weiterentwickelt werden, die angesichts allgegenwärtiger Flexibilisierung und Ausprägung sehr individueller Lernbiografien eigenständige Lernprozesse erwachsener Lerner ermöglichen und dabei Chancen sozialen und solidarischen Lernens  eröffnen.

Die Organisation  der  schulischen Ausbildung  sollte erwachsenengerechten  Prinzipien folgen, d.h.

  • die Struktur der Bildungsgänge sollte dem Prinzip der Modularisierung folgen;
    erreichte Qualifikationen sollten auf spätere Bildungsgänge/Abschlüsse angerechnet werden können ( Möglichkeit von Teilbelegungen; Kumulation einzelner fachspezifischer Qualifikationen zu schulischen Abschlüssen);
  • eine erwachsenengerechte und der wissenschaftlichen Diskussion entsprechende Öffnung des Fächerkanons hin zu fächerübergreifendem und projektorientiertem Lernen sollte angestrebt werden;
  • die Möglichkeit von institutionenübergreifenden Bildungsgängen sollte gefördert werden ; die Kooperation der Einrichtungen der Erwachsenenbildung bleibt zu verstärken;
  • die Zeithorizonte des Schulbesuchs sollten ebenfalls flexibilisiert werden können, was die Präsenzpflicht angeht ( Bewertung des Lernerfolgs, nicht der Anwesenheit im Unterricht) wie auch die Öffnung der Wiederholungsmöglichkeiten;
  • die Schulen des Zweiten Bildungsweges sollten als weitestgehend eigenständig verantwortliche Schulen das Recht erhalten, über ihre spezifischen Organisationsformen selbstständig zu entscheiden, um auf dem Wege der ,Organisation von unten‘ die für ihre Studierenden jeweils optimalen schulischen Rahmenbedingungen gestalten zu können (Vormittagskurse; Blended-Learning­ Bildungsgänge u.a. sollten bundesweit erweitert und ergänzt werden); die Vergleichbarkeit der Qualifikationen und der schulischen Abschlüsse bleibt gesichert über die Teilnahme an den zentralen Abschlussprüfungen;
  • erforderlich ist darüber hinaus ein weitergehendes eigenständiges Budgetrecht der Schulen, das vor Ort Personalentscheidungen ermöglicht, die die situativen Bedingungen der einzelnen Schulen angemessen reflektieren etwa in der Frage der Anstellung von sozialpädagogischen Fachkräften;
  • die Einrichtung neutraler Weiterbildungsberatungsstellen in Städten und Regionen zum verstärkten Auf-  und Ausbau  einer qualifizierten, klientenorientierten Beratung ist unabdingbar insbesondere für die Beratung junger Erwachsener zur Vermeidung so genannter Warteschleifen;
  • die Abendgymnasien verstehen ihr Angebot als einen Bildungsgang in einem ,Haus des Lernens‘, das über die Bündelung der schulischen Bildungsangebote die Durchlässigkeit der Bildungswege und Abschlussmöglichkeiten vom Hauptschulabschluss bis zur allgemeinen Hochschulreife garantiert;
  • die Abendgymnasien initiieren und integrieren sich in ein System dicht vernetzter und miteinander kooperierender Angebote unterschiedlicher, sich ergänzender Träger der Weiterbildung; mögliche Kooperationspartner  wären  nach diesem Verständnis Volkshochschulen, Handwerkskammern, freie Träger der Weiterbildung in den Kommunen und Regionen u.a.; sie betreiben Netzwerke zur Schaffung bzw. zum Ausbau von Weiterbildungsverbünden gleichberechtigter, miteinander vernetzter Einrichtungen zur Optimierung/ lntegration der Angebote der Weiterbildung;
  • die Abendgymnasien passen ihr Bildungsangebot in Wahrnehmung ihres gesellschaftlichen Auftrags und in steter Reflexion der sich dynamisch wandelnden Rahmenbedingungen weiterhin flexibel an die Bedürfnisse der nachfragenden berufstätigen Erwachsenen an; sie entwickeln auch in Zukunft  Modellversuche, innovative Konzepte und Projekte und stellen damit  eine wirksame Möglichkeit dar, prekäre  Arbeitsverhältnisse zu überwinden und eine dauerhafte Integration in den Arbeitsmarkt zu erreichen.
    In einem erweiterten Sinn gilt dies ganz besonders für die Eingliederung erwachsener Zuwanderer  und FIüchtlinge, die in besonderer Weise über ausgebaute Angebote u.a. zum  Lemen der deutschen Sprache in sogenannten „internationalen Förderklassen“ zu fördern sind. Diese drängenden Anforderungen und die damit einhergehenden Entwicklungsprozesse sind nur zu bewältigen über die Bereitstellung entsprechender personeller und organisatorischer Ressourcen

Angesichts dieser gesellschaftlichen und bildungspolitischen Herausforderungen begrüßt der Bundesring der Abendgymnasien in Deutschland die Möglichkeit des Bezugs von elternunabhängigen Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz für die Studierenden und unterstreicht seine zwingende Notwendigkeit und zentrale Bedeutung für das erfolgreiche Lernen am Abendgymnasium.